Null-CO2-Strategie: aussergewöhnliche Situationen erfordern ein neues Mindset
Der Klimawandel ist nicht erst seit Greta Thunberg in aller Munde. Wissenschaftler*innen und Expert*innen waren sich bereits vorher in überwältigender Mehrheit einig, dass die ca. 35 Milliarden Tonnen CO2, welche die Menschheit jährlich freisetzt, eine zentrale Rolle in der globalen Erderwärmung spielen. In diesem Artikel möchte ich diskutieren, warum ich den Weg einer Null-CO2-Gesellschaft für unausweichlich halte und warum wir diesen Aspekt schnellstmöglich in unser tägliches Denken und Handeln integrieren sollten.
Über Jahrtausende hinweg hat sich die Zusammensetzung der erdatmosphärischen Gase nur sehr geringfügig verändert. Es wurde in ungefähr gleich viel CO2 freigesetzt wie an anderer Stelle wieder gebunden werden konnte. Damit war der natürliche CO2-Kreislauf im Gleichgewicht. Mit der Entdeckung fossiler Brennstoffe haben die Menschen es geschafft, deutlich mehr CO2 freizusetzen als die natürlichen Senken aufnehmen können. Dadurch steigt der CO2-Gehalt der Atmosphäre langsam aber sicher an – was gravierende Folgen für Mensch und Umwelt hat.
Mithilfe der Badewannen-Analogie erklärt Bill Gates diesen Effekt bildhaft: Die Badewanne repräsentiert unsere Atmosphäre. Das Wasser steht für die von den Menschen freigesetzte Menge an Treibhausgasen. Auch wenn wir den Zufluss deutlich verringern, indem wir unseren CO2-Ausstoss stark reduzieren, wird sich die Badewanne immer weiter füllen. Die einzige Möglichkeit, eine überlaufende Badewanne bzw. eine Klimakatastrophe zu verhindern besteht darin, den CO2-Kreislauf wieder ins Gleichgewicht zu bringen und der Atmosphäre nicht mehr Treibhausgase beizufügen als dieser gleichzeitig entzogen werden.
Die einen streiten nach wie vor darüber, ob der Klimawandel tatsächlich stattfindet und argumentieren darüber, ob er menschengemacht ist. Andere hoffen, dass dessen Auswirkungen weniger schlimm ausfallen als von der Wissenschaft prognostiziert. Doch es gibt auch immer mehr Menschen, die sich bereits vollauf mit der Lösungsfindung beschäftigen. Ich bin überzeugt, dass das ungelöste Problem der globalen Erderwärmung eine weitere technologische Revolution nach sich ziehen wird. Wie immer, kündigt sich diese mit leisen Schritten an und überrascht dann diejenigen, die das Ausmass des Veränderungspotenzials unterschätzt haben. Netto-Null bedingt zusätzliche Investitionen. Wer den Klimaschutz aber vorantreibt, kann Chancen frühzeitig erkennen und gezielt nutzen.
Es ist somit entscheidend, so schnell wie möglich vom «Das-wird-schon-irgendwie-gutgehen»-Modus zu einem konkreten Innovationsdenken zu wechseln. Es geht nämlich nicht um die Frage, «ob» der Klimawandel real ist, sondern um die Antwort, «wie» wir diese Herausforderung zu meistern gedenken.
Unsere Erfahrung hat uns gelehrt, dass wir gut daran tun, unsere Produkte, Technologien und Lösungen langsam, aber stetig weiterzuentwickeln, indem wir beispielsweise die Energieeffizienz um einige Prozentpunkte steigern. Um der Erderwärmung zu begegnen, reicht dieser Ansatz jedoch bei Weitem nicht aus. Hierzu brauchen wir neue Ideen, neue Lösungen und neue Technologien.
Unser Mindset spielt dabei eine zentrale Rolle: wir müssen nicht nur geltende Rahmenbedingungen und bis anhin gültige Annahmen hinterfragen, sondern auch über Systemgrenzen hinweg denken. Um geeignete Ideen zu entwickeln, sollten wir uns weniger fragen, welche Ansätze unter den gegebenen Umständen erfolgreich sein könnten, sondern vielmehr darauf fokussieren, wie sich die Rahmenbedingungen in den kommenden Jahrzehnten verändern werden.
Meine persönliche Prognose
Steigender Elektrizitätsbedarf
Auch wenn sich die Energieeffizienz in vielen Sektoren noch weiter steigern lässt, ist nicht damit zu rechnen, dass der Elektrizitätsbedarf sinken wird. Im Gegenteil: diverse Trends sprechen für eine deutliche, teilweise sogar sprunghafte Zunahme der Nachfrage nach Elektrizität. Dazu gehören beispielsweise die weitreichende Elektrifizierung von Fahrzeugen und Transportmitteln, die grossflächige Nutzung von Wärmepumpen in Gebäuden, der zunehmende Einsatz von digitalen Technologien wie Blockchain, die Abscheidung und Speicherung von CO2 in Kehrichtverbrennungsanlagen und Zementwerken , die Erzeugung strombasierter Energieträger wie Wasserstoff sowie auch die Herstellung synthetischer Brennstoffe und Düngemittel.
Ausbau erneuerbarer Energiequellen und Speicherkapazitäten
Um der steigenden Nachfrage bei einem gleichzeitigen Rückbau von fossil und nuklear betriebenen Kraftwerken nachzukommen, sind wir auf erneuerbare Energiequellen angewiesen: von zentraler Bedeutung sind dabei Wasserkraft und Photovoltaik. Zugleich sind auch Biogas, Geothermie und Windkraft denkbare Teile eines zukünftigen Schweizer Erzeugungssystems. Um die täglichen und saisonalen Schwankungen der Erzeugung aus erneuerbaren Energieträgern abzufedern, müssen zusätzlich Speicherkapazitäten geschaffen werden.
Strukturelle Anpassungen im Niederspannungsbereich
E-Mobilität und Photovoltaik sorgen für einen grundlegenden strukturellen Wandel des Verteilnetzes auf Verbraucherseite. Der weitflächige Ausbau von Ladeinfrastrukturen und Zwischenspeichern in Privathaushalten und Gemeinden, die Bildung von Energieverbrauchsgemeinschaften sowie die Einführung von intelligenten Stromzählern führen zu einem sehr heterogenem Verteilnetz im Niederspannungsbereich. Diese strukturellen Änderungen führen zu erhöhter Variabilität und verminderter Vorhersagbarkeit des Strombedarfs. Gleichzeitig ergeben sich aber dank der erhöhten Anzahl Messpunkte mit Aufnahme des Lastgangs auch neue Möglichkeiten zur Bedarfssteuerung sowie eine verbesserte Transparenz.
Intensivierter Energieaustausch mit europäischen Nachbarländern
Im Gegensatz zu fossil oder nuklear betriebenen Kraftwerken sind erneuerbare Energiequellen oftmals an geografische Gegebenheiten gekoppelt: Windkraftwerke finden sich vermehrt an der Nordsee, Pumpspeicherkraftwerke eher in der Schweiz. Der Ausbau von erneuerbaren Energiequellen führt somit zu einem erhöhten Bedarf an Energieübertragung über grosse Distanzen. Um diesem Umstand gerecht zu werden, muss die Anbindung der Schweiz an das europäische Stromnetz ausgebaut werden. Nur so lassen sich vorhandene Kapazitäten bestmöglich nutzen.
Intelligente Steuerung und neue Anreizsysteme
Um das volle Potenzial dieser neuen Energielandschaft auszuschöpfen, müssen Energieversorger und Verteilnetzbetreiber die grossen Datenmengen, die in Netzüberwachungssystemen und intelligenten Stromzählern anfallen sinnvoll nutzen. Energieerzeugung, -speicherung und -verbrauch müssen zu jedem Zeitpunkt im Gleichgewicht stehen, damit das Netz stabil bleibt. Gleichzeitig sollen die Live-Daten neue Abrechnungsmodelle und Anreizsysteme ermöglichen. Um diese Datenmengen zu bewältigen, ist die Branche auf leistungsstarke und gut vernetzte IT- und Datenverarbeitungssysteme angewiesen.
Die Rolle zukünftiger Energieversorger und Verteilnetzbetreiber
Energieversorger und Verteilnetzbetreiber spielen in dieser neuen Energielandschaft eine zentrale Rolle. Sie müssen nicht nur die Transformation hin zu einem CO2-neutralen Energieerzeugungssystem meistern, sondern sind gleichzeitig mit einer Vielzahl von strukturellen Änderungen im Stromnetz konfrontiert. Digitalisierung und Disruptionen im Markt sorgen zudem für eine Beschleunigung der Veränderungen, die immer schneller und unvorhersehbarer auftreten werden. Ein innovatives und agiles Mindset ist deshalb Grundvoraussetzung, um die beschriebenen Herausforderungen zu meistern.